Schattengesicht Cover (© Ulrike Helmer Verlag)

[Rezension] Schattengesicht von Antje Wagner

Durch die Leserunde zu Der Schein von Ella Blix kam ich mit der einen Hälfte des Autorenduos, Antje Wagner, ins Gespräch. Dass sie schon einige von ihren Lesern hochgeschätzte (Jugend-)Romane geschrieben hatte, war mir durchaus bewusst, trotzdem hatte ich bis dato noch nie zu einem dieser gegriffen. Hannah, könnte Schattengesicht* nicht was für dich und deinen Blog sein? − Möglich, keine Ahnung. Es hat mich schon angelächelt. Der Klappentext hält sich ja sehr bedeckt. Aber Moment mal. Neuerscheinung? Über das Buch bin ich doch früher schon mal gestolpert, das gibt’s doch schon länger. Stimmt. Es erschien im Februar 2018 als Neuauflage im Ulrike Helmer Verlag, kam aber erstmals 2010 im Querverlag raus und war eine ganze Zeit lang vergriffen. Fast ohne irgendeine Ahnung vom Inhalt dieses Buchs ging ich das Lesen relativ blauäugig an. Und jetzt, einige Tage nach Beendigung, lässt es mich immer noch nicht los, ich durchlebe die Szenen wieder und wieder und versuche, die Lücken zu schließen und die Geschichte weniger aufwühlend werden zu lassen. Diese neue Ausgabe hat 176 Seiten und kostet 12,00 €.

Kurzbeschreibung Inhalt

Die erste Szene spielt sich im Gefängnis ab, in dem die 25-jähirge Protagonistin Milana ankommt. Als Insassin, und ohne Polly. In fünf Kapiteln zu fünf Lebensabschnitten entwirrt sich nach und nach, wie es dazu kommen konnte. Seit Kindheitstagen gibt es Mila und Polly nur zusammen. Sie sind auf der Flucht und können nie dorthin zurück, wo sie schon waren. Eine triste, schwerfällige Bedrohung verfolgt sie auf jedem Schritt.

Meine Meinung

Mehr sollte man meiner Meinung nach über den Inhalt vor dem Lesen möglichst nicht wissen. Das klaut einem sonst viel vom Leseerlebnis. Schattengesicht ist ein Buch, das sich zwischen den Kategorien bewegt. Es ist kein Jugendbuch, kein klassischer Erwachsenenroman. Kein Thriller, kein Krimi, keine Liebesgeschichte. Vielmehr ist es ein Augenblinzeln in einen tiefen Abgrund. Ein paar Momentaufnahmen verschiedener Lebensabschnitte – von der Kindheit bis zu den ersten Jahren des Erwachsenenlebens – die sich zu einem wirren Bild bruchstückhafter Hintergründe und Motive zusammensetzen und unweigerlich zu dem Ausgang führen, den man auf der ersten Seite vorgesetzt bekommt.

Mein erster Gedanke bei dieser Rückwärtserzählung war: Spannend. Mein zweiter: Wie soll das denn funktionieren? Aber genau das tut es. Jede Erwähnung hat ihren Sinn und sitzt genau da, wo man sie nicht erwartet, aber braucht. Man wird hellhörig, achtet auf jeden Hinweis und versucht dahinterzukommen, was es mit dem Verbrechen auf sich hat, mit Polly und Mila, mit ihrer ständigen Flucht. Denn obwohl man genau weiß, wie die Geschichte endet, weiß man vom Ende doch rein gar nichts. Die eigentliche Auflösung präsentiert Antje Wagner erst in den letzten drei Zeilen. Bis dahin meint man, etwas zu ahnen, aber eben doch nichts zu wissen, sehnt sich nach der Aufklärung der eigenen Unwissenheit. Auf der letzten Seite angekommen hatte ich das Gefühl, das Buch nicht verstanden zu haben, bis ebendiese letzten drei Zeilen Zugang zu meinem Kopf fanden. Die Worte, die den Leser dazu bringen, jede Szene neu zu durchdenken, bis sie schließlich Sinn ergibt. Die Worte, die den Drang auslösen, das Buch direkt wieder von vorne zu lesen, einen aber doch so ermatten, dass man erstmal zur Ruhe kommen muss.

Schattengesicht ist düster, beengend und unterschwellig sehr traurig. Mit der Zeit versteht man, dass Einsamkeit, Verrat und wiederkehrende Angst dabei die vorherrschenden Themen sind. Trotzdem ist den Worten an sich nicht diese Schwere zu entnehmen. Es ist ein Gefühl, das sich einem ganz heimlich und unterschwellig um den Nacken legt und mit der Zeit immer mehr Gewicht entwickelt, bis man seine Existenz nicht mehr leugnen kann. Je mehr man sich dem Beginn der Geschichte und damit auch der ersten Begegnung zwischen Mila und Polly nähert, desto mehr wird deutlich, wie viel von der Entwicklung des Charakters und des eigenen Lebens durch Ereignisse in der Kindheit vorgeprägt wird.

Es gab einen Punkt in der Geschichte, bei dem ich mir dachte: Ernsthaft? Mädchen, warum tust du das? Du hättest all dem entgehen können. Ich dachte, dass die Autorin diesen Teil ja einfach gelöst hatte und ärgerte mich sogar darüber. Bis ich es zum Schluss endlich verstand. Die unter euch, die das Buch schon gelesen haben, wissen vielleicht, welche Stelle ich meine. Diese eine Stelle machte die Geschichte für mich nur noch in sich geschlossener, weil sie zeigt, dass man am wenigsten sich selbt und seinen eigenen Handlungen entkommen kann. Dass Selbtsmanipulation die vielleicht größte Macht über uns haben kann.

Mit keinem Wort ging es bisher um queere Charaktere. Das spielt in diesem Buch auch eine überaus untergeordnete Rolle, ist aber doch präsent und wichtig für den ein oder anderen Handlungsverlauf. Einigen Hinweisen lässt sich entnehmen, dass sich die Hauptperson(en) eher zu Frauen und weniger zu Männern hingezogen fühlt/en. Gerade dass dieses Thema nur so am Rande einfließt, freut mich sehr für die queere Repräsentation in der Literatur.

Fazit

Schattengesicht* ist ein unbedingt empfehlenswerter Psychothriller, das trifft es wohl am besten. Die Geschichte, die mit so wenigen Worten erzählt wird, geht definitiv an die Substanz und lässt mich auch nach Tagen nicht los. Denn nach Beendigung des Buchs beginnen erst die eigentlichen Gedanken, mit denen man die Welt zwischen den Zeilen zu ergründen versucht. Antje Wagner hat hier ein sprachliches Meisterwerk geschaffen, das einen trotz vieler Andeutungen und Vorahnungen bis zum Schluss im Dunkeln tappen und an sich zweifeln lässt.

Humor: ○○○○○
Anspruch: ●●●●○
Spannung: ●●●●●
Liebe: ●●○○○
Erotik: ○○○○○
Originalität: ●●●●○

Weitere gern gelesene Eindrücke dazu:

dandelion | abseitige LiteraturLeseLust LeseLiebeLike a Dream
und besonders interessant: »Die Geschichte hinter dem Buch« bei Tintenmeer

Eure Hannah 🙂

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6 Gedanken zu “[Rezension] Schattengesicht von Antje Wagner

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